Ein Pflichtteilsverzicht wurde beim Notar beurkundet. Alle Beteiligten dachten, damit sei alles erledigt. Als der Erbfall eintrat, kam aber der Wunsch auf, trotz Verzichtserklärung doch noch etwas zu bekommen. Wie sollte das aber funktionieren – nachdem doch der Notar damals alles „wasserdicht“ machen sollte?
Manchmal lohnt sich ein gründlicher Blick auf Sachverhalt und Rechtslage. Bereits der Notartermin zum Pflichtteilsverzicht lief in diesem Fall etwas ungewöhnlich ab: Die Mutter bestellte das Kind zum Notartermin ein, als das Kind 500 km von zu Hause entfernt studierte. Am Tag der Notartermins hatte dann aber ausgerechnet die Mutter keine Zeit dafür, obwohl es ihr doch eigentlich so wichtig war, daß später einmal kein Pflichtteilsberechtigter die Anordnungen ihres Testaments mit einer Pflichtteilsforderung durchkreuzen kann. Die Mutter schickte einen Vertreter zum Notar, der für sie unterschrieb. Vorsichtshalber ging sie selber später auch noch zu dem Notar und erklärte die Genehmigung des Vertrags über den Pflichtteilsverzicht. Um Kosten zu sparen, ließ sie auf der Genehmigungserklärung aber lediglich ihre Unterschrift beglaubigen, nicht auch das ganze Dokument beurkunden.
Ein Pflichtteilsverzicht ist aber nur dann wirksam, wenn der Verzichtende (im konkreten Fall: das Kind) die Verzichtserklärung in notariell beglaubigter Form abgibt, und der Verzichtsempfänger (im konkreten Fall: der Mutter = spätere Erblasserin) den Verzicht in notariell beurkundeter Form annimmt. Dabei muß der Verzichtsempfänger im Notartermin persönlich anwesend sein.
Im aktuellen Erbfall des Monats sind also gleich eine ganze Reihe von Formfehlern geschehen, von denen jeder einzelne für sich genommen ausreicht, um den Pflichtteilsverzicht unwirksam zu machen. Da hilft dann auch keine nachträgliche „Genehmigung“, weil ja beide Vertragsparteien gleichzeitig beim Notar sein müssen, um den Verzicht wirksam zu machen. Dazu kommt, daß die Annahme des Pflichtteilsverzichts nur beglaubigt wurde, obwohl Beurkundung nötig gewesen wäre.
Nachdem das Kind vom Fachanwalt für Erbrecht erfahren hat, daß der Verzicht unwirksam ist, fordert es nach dem Tod der Mutter von der Testamentserbin den Pflichtteil ein. Als die Erbin das erfährt, fällt sie erst einmal aus allen Wolken – der Notar sollte doch damals dafür sorgen, daß genau das nicht passieren kann! Die Erbin geht jetzt auch zum Anwalt und läßt sich beraten, was man da machen kann.
Der Anwalt der Erbin denkt sich etwas aus: Die Mutter hat einige großzügige Schenkungen an das Kind gegeben, das den unwirksamen Pflichtteilsverzicht erklärt hat. Wenn die Mutter nun die Schenkungen aber nur im Vertrauen darauf hergegeben hat, daß dieses Kind später einmal überhaupt nichts vom Erbe bekommen wird, dann könnte das ja irgendeine Rolle spielen. Der Anwalt erinnert sich daran, daß es ja BGB § 242 gibt, einen „Gummiparagraphen“ mit dem Grundsatz von Treu und Glauben. Solche Regelungen helfen dabei, Fälle zu lösen, die bei anderen Rechtssystemen zwischen den Zeilen zahlloser Detailregelungen „durchrutschen“ würden. Allerdings ist es nicht so leicht greifbar, was das denn nun für das Ergebnis des vorliegenden Falles bedeutet. Also fängt der Anwalt der Erbin an zu argumentieren: Es sei „treuwidrig“, sich auf die Unwirksamkeit des Pflichtteilsverzichts zu berufen, wo doch die Schenkungen von der Mutter sicherlich nur im Vertrauen auf die Wirksamkeit des Verzichts an dieses Kind gegeben wurden. Daher, meint er,
Jetzt muß der Fachanwalt des pflichtteilsberechtigten Kindes umsichtig vorgehen, damit er nichts übersieht. Er recherchiert deshalb in Fachbüchern und Urteilsdatenbanken, ob es zu einem vergleichbaren Fall schon eine Gerichtsentscheidung gab oder ob ein Juraprofessor sich dazu in einem der „schlauen Bücher“ Gedanken gemacht hat. Das war nicht der Fall. Also hilft es, über das Gesamtkonzept des Bürgerlichen Rechts nachzudenken: Lücken füllen mit dem Grundsatz von Treu und Glauben ist nur dann nötig und möglich, wenn es keine konkrete Regelung gibt. Das BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) sieht aber schon seit dem Jahr 1900 vor, was mit formnichtigen Verträgen passiert und auch was dann geschehen soll, wenn jemand im Vertrauen auf etwas Geld bezahlt, was in Wirklichkeit ganz anders ist. Es ist also keinesfalls unzulässig, daß das Kind sich auf die Unwirksamkeit des Pflichtteilsverzichts beruft. Die Erben muß deshalb sehr wohl Pflichtteilsansprüche erfüllen, angefangen von Auskünften über den Nachlaß bis hin zur Zahlung. Die einzige offene Frage ist da, wie viel am Ende zu zahlen ist. Gegenüber dem pflichtteilsberechtigten Kind kann die Erbin sich nicht erfolgreich weigern, etwas herzugeben.
Eine andere Frage ist, ob die Erbin sich nicht anderweitig schadlos halten kann. Der Notar soll ja eigentlich dafür sorgen, daß seine Mandanten mit seiner Hilfe wirksame Regelungen bekommen. Im aktuellen Erbfall des Monats kann man sich zwar denken, wie es abgelaufen ist: Die Terminvereinbarung lief bestimmt noch normal ab, dann kommt aber nicht die Mandantin, sondern überraschen ein Vertreter an ihrer Stelle. Das Kind ist nur für diesen Termin angereist, Hin- und Rückfahrt von 1.000 km möchte man da nicht vergeblich auf sich genommen haben. Also drängen alle darauf, daß der Notar schnell improvisiert. Und in solchen Situationen passieren eben schnell mal Fehler. Und für vermeidbare Fehler gibt es die Notarhaftung, wenn der Notar fahrlässig etwas falsch gemacht hat. Dabei spielt moralisches Verschulden keine Rolle, die Notarhaftung ist bei Verstößen gegen gesetzliche Formvorschriften streng. Ersetzt wird aber nur der konkrete Schaden, und bei dem werden auch Steuervorteile usw. berücksichtigt; die Erbin muß nämlich weniger Erbschaftsteuer bezahlen, wenn der Pflichtteil erfüllt wird, weil der Verzicht unwirksam ist.
In diesem Erbfall steckt einiges an juristischer Arbeit. Die Rechtslage ist für den Fachmann spannend. Genauso spannend ist, wie die Erbin und das pflichtteilsberechtigte Kind mit dem umgehen, was in den vermeintlich einfachen Regelungen zu diesem Erbfall drinsteckt.