Immer wieder werden Testamentserben von Verwandten eines vermögenden Erblassers als Erbschleicher bezeichnet. Besonders unangenehm sind die Fälle, in denen offensichtlich die Demenz oder sonstige Hilfsbedürftigkeit eines alten Menschen ausgenutzt wurde. Dieses Jahr wurde vom Oberlandesgericht Köln ein Fall entschieden, in dem ein Erbschleicher offensichtlich keinerlei Hemmungen kannte:
Die Mutter kam ins Pflegeheim, weil sie wegen einer „mittelgradigen Demenz im Senium“ als alleinstehende Witwe ihren Haushalt nicht mehr alleine führen konnte. Sie wurde vom Facharzt für Neurologie und Psychiatrie begutachtet, woraufhin das Gericht einen Betreuer für ihre Vermögensangelegenheiten bestellte. Im Gutachten des Facharztes stand nämlich unter anderem, daß die alte Dame zwar wach und ihm freundlich zugewandt war. Allerdings wußte sie ihr eigenes Hochzeitsdatum nicht mehr. Das aktuelle Datum und ihr Geburtsdatum nannte sie zwar auf Nachfrage zutreffend, machte sich bei der Frage nach ihrem Lebensalter jedoch 30 Jahre jünger als sie tatsächlich war. Auch meinte sie, ihr Sohn sei Professor, was er aber niemals war. Die Anzahl der Enkelkinder konnte sie auch nicht richtig angeben. Ihre Berufsausbildung in einer Anwaltskanzlei hatte sie vergessen und gab an, keinerlei Ausbildung zu haben. Einige weitere Fragen wurden entsprechend beantwortet. Der Gutachter kam zum Ergebnis, daß die alte Dame ihren Schriftverkehr, Umgang mit Behörden und Vermögensangelegenheiten nicht mehr selber regeln konnte. Daraufhin setzte das Betreuungsgericht den Sohn als Betreuer ein; er sollte sich um rechtliche und finanzielle Angelegenheiten seiner Mutter kümmern, die gleichzeitig zur besseren Betreuung ins Pflegeheim umzog. Soweit war noch alles „im Lot“.
Erfahrungsgemäß sind Menschen, die auf fremde Hilfe angewiesen sind, leicht beeinflußbar. Das wird immer wieder ausgenutzt. In unserem Fall wurde ein Notar zur Beurkundung eines Testaments ins Pflegeheim gerufen. Er brachte einen vorbereiteten Entwurf mit und traf sich im Seniorenheim mit der alten Dame und deren Sohn. Der Notar erfuhr nur durch Zufall, daß es ein Betreuungsverfahren gegeben hatte und der Sohn auch Betreuer seiner Mutter war. Daraufhin fragte der Notar unter anderem nach, ob es im Betreuungsverfahren ein ärztliches Gutachten gab. Der Sohn verneinte das wahrheitswidrig, obwohl dieses Gutachten erst ein viertel Jahr alt war; er konnte es kaum vergessen haben. Im Testament war vorgesehen, daß der Sohn Alleinerbe wird und die Tochter nur ein überschaubaren Vermächtnis bekommen sollte, das knapp über ihrem Pflichtteil lag. Für diese Regelung war kein Grund ersichtlich. Nachdem die Erblasserin schon beim nervenärztlichen Gutachten „wach und dem Untersucher zugewandt“ war, bemerkte der Notar natürlich nicht, wie weit die Demenz fortgeschritten war. Er beurkundete also in gutem Glauben den vermeintlichen letzten Willen der Erblasserin im Testament.
Als die Mutter starb, die Tochter den Eindruck, daß in der Sache etwas nicht richtig gelaufen war. Sie fragte beim auf Erbrecht spezialisierten Anwalt nach, ob man die Wirksamkeit des Testaments nicht überprüfen kann. Daraufhin stellte ihr Anwalt einen Erbscheinsantrag beim Nachlaßgericht, in dem beide Kinder als gesetzliche Erben je zur Hälfte Erben werden sollten. In der Begründung des Antrags auf diesen Erbschein schrieb der Anwalt, daß das Testament wegen Testierunfähigkeit der Erblasserin nicht ihren letzten Willen darstellt. Im Gutachten, das der Nervenarzt für das Betreuungsgericht erstellt hatte, ergab sich schließlich, daß die Testatorin nicht mehr zur freien Willensbildung in der Lage war. Sie verstand die beiden Bereiche nicht mehr, auf die es beim Testament zu Gunsten Verwandter ankommt: Familie und Vermögen. Außerdem war ihr Gedächtnis so stark beeinträchtigt, daß sich schon nach kurzer Zeit nicht mehr an wichtige Ereignisse erinnern konnte; sogar ihr Hochzeitsdatum und ihre Berufsausbildung hatte sie vergessen, was selbst bei Demenzkranken selten vorkommt – das Langzeitgedächtnis für die alten Ereignisse ist in aller Regel länger intakt als die Erinnerung an die Ereignisse in den letzten Wochen. Bedenklich war auch die Anwesenheit des Sohnes, der auch Betreuer war und durch das Testament zum Alleinerben eingesetzt wurde; Pflegebedürftige sind oft leicht beeinflußbar, gerade wenn bei einer Entscheidung der Mensch anwesend ist, auf dessen Hilfe sie angewiesen sind. Es ist nicht überraschend, daß der dann im notariell beurkundeten Testament Alleinerbe wurde, zumal der Notar ja eine vorbereitetes Testament mitbrachte, was vermutlich das Ergebnis einer Vorbesprechung mit dem Sohn war.
Die alte Dame verstarb. Im Erbscheinsverfahren beim Nachlaßgericht wehrte sich der Sohn dagegen, daß er „nur“ die Hälfte erben sollte. Daraufhin ließ das Gericht zunächst den Arzt aus dem Betreuungsverfahren sein Gutachten erläutern. Nachdem er von den Anwälten beider Kinder ausführlich befragt worden war, wurde der beurkundende Notar als Zeuge angehört. Dann ließ die Nachlaßrichterin einen zweiten Gutachter überprüfen, ob das Gutachten aus dem Betreuungsverfahren die Testierunfähigkeit zweifelsfrei beweist. Das wurde vom zweiten Gutachter bestätigt.
Dieses Ergebnis gefiel dem Sohn freilich nicht. Er beharrte immer noch darauf, daß er aufgrund des Testaments seiner Mutter deren Alleinerbe geworden sei. Er ging in die Beschwerdeinstanz und führte den Streit vor dem OLG Köln fort. Dort verlangte er, daß ein dritter Gutachter sich mit dem Geisteszustand der verstorbenen Mutter beschäftigen solle; er hoffte darauf, daß dann nicht mehr zweifelsfrei feststehen würde, daß die Erblasserin bei der Errichtung ihrer letztwilligen Verfügung testierunfähig war. Das Beschwerdegericht entschied jedoch, daß kein drittes Gutachten erforderlich war, weil es keine begründeten Zweifel an der Richtigkeit der ersten beiden Gutachten gebe. Nach drei Jahren Verfahrensdauer konnte endlich ein Erbschein ausgestellt werden, in dem beide Kinder als Erben der Mutter zu gleichen Teilen ausgewiesen sind. Für die Tochter hat sich die Ausdauer gelohnt, der Erbschleicher hat am Ende den Kürzeren gezogen.