Häufig sind Testamente auslegungsbedürftig, weil ein Außenstehender die Formulierungen nicht so versteht wie der Erblasser. Entscheidend ist allein der Wille des Erblassers in dem Zeitpunkt, in dem er das Testament errichtet hat. Die Auslegung findet aber erst nach seinem Tod statt, so daß die Feststellung dieses Willens schwierig ist. Manchmal beruht eine letztwillige Verfügung auch auf einem Irrtum, so daß sie angefochten werden kann. Im Juli 2012 hat das Nachlaßgericht Stuttgart einen interessanten Erbfall entschieden:
Die beteiligten Personen: E: Erblasser, N: Nachlaßpfleger, K: Kind des Erblassers, F: Freund des K
E hat in seinem Testament geschrieben, daß sein einziges Kind (K) den Bauernhof in Südosteuropa bekommen soll, den er selber von seinen Eltern geerbt hat. Er schreibt ausdrücklich, daß das den Pflichtteil des K bei weitem abdecke; über sein Kind habe er sich geärgert, weil es ihn in den letzten Jahren vor seinem Tod kaum besucht hat. Als weitere Anordnung steht im Testament, daß die Person, die seine Buchmanuskripte zur Veröffentlichung bringt, das Vermögen bei seiner Bank in Stuttgart bekommen soll. Es ist aber kein Name genannt und auch sonst kein Anhaltspunkt zu erkennen, wer das sein wird. E gibt in seinem Testament den Wert der Geldanlagen in Deutschland sowie der Immobilien in Südosteuropa mit jeweils ca. € 50.000,- an.
E stirbt in Stuttgart. Einige Jahre zuvor hat E die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen, so daß deutsches Erbrecht gilt.
Es Vermieter möchte, daß die Miete bezahlt und daß Es Wohnung möglichst schnell geräumt wird. Nachdem der Nachlaßrichter davon ausgeht, daß K nicht Erbe werden soll – schließlich steht im Testament, daß K nur in Höhe des Pflichtteils bedacht sein soll -, muß ein Nachlaßpfleger bestellt werden. Das Nachlaßgericht Stuttgart bestellt N zum Nachlaßpfleger mit den Aufgaben, den Nachlaß zu sichern und die unbekannten Erben zu suchen.
N kümmert sich nun darum, daß die Geldanlagen (Wertpapiere) keine Verluste bringen und verkauft alle riskanten Papiere. Er räumt auch die Wohnung des E und zahlt die ausstehende Miete, kündigt das Zeitungsabonnement des Verstorbenen E, informiert die Versicherungen des E vom Todesfall und sucht die Verwandten, die auf Montenegro, Österreich und Kanada verstreut leben. Er bezahlt auch die Feuerbestattung, die die Stadtverwaltung vorgenommen hat, nachdem es in Deutschland keine Angehörigen des E gab. Er schickt die Urne an K.
N überlegt außerdem, was die Regelungen im Testament bedeuten. Er kommt zum Schluß, daß K auf keinen Fall etwas bekommen soll. Er meint, der Herausgeber der bislang unveröffentlichten Bücher des E solle Erbe sein und sucht einen Verleger für die Bücher des E. Er meint, daß der Erblasser unbedingt verhindern wollte, daß K oder Ks Umfeld vom Nachlaß mehr abbekommt als den Bauernhof.
K wurde im Rahmen der Testamentseröffnung vom Nachlaßgericht angeschrieben und bekam auch mitgeteilt, daß N als Nachlaßpfleger eingesetzt wurde. K ärgert sich zunächst über die Feuerbestattung, da die Verwandtschaft lieber eine Erdbestattung gehabt hätte. Außerdem wundert K sich über die Bemerkung im Testament, daß K den E nur selten besucht habe. K lebte nämlich damals in Jugoslawien und flüchtete während des Bürgerkriegs vor den Bombenangriffen nach Ungarn, nachdem ein Visum für die Einreise nach Deutschland nicht erteilt worden war, wo K viel lieber hingezogen wäre. K möchte so viel wie möglich erben und sucht im Internet nach einem Rechtsanwalt für Erbrecht in Stuttgart. K teilt dem Anwalt mit, daß Ks Freund (F) aus der Verlagsbranche früher in Südosteuropa tätig war und inzwischen in Deutschland die Veröffentlichung von Büchern fördert.
Der Anwalt von K spricht mit N über das weitere Vorgehen. N sagt, daß er gerade mit einem Verleger Kontakt aufgenommen hat, damit der die Bücher veröffentlicht. N geht nämlich davon aus, daß der Verleger dann Erbe wird und Ns Aufgabe, den unbekannten Erben zu ermitteln, erfüllt sein werde. N will auf keinen Fall, daß F die Manuskripte sieht, weil nach seiner Meinung Ks Umfeld nichts mit dem Nachlaß zu tun haben solle. Weil die Veröffentlichung der Manuskripte durch einen Dritten Probleme für K bereiten kann, droht Ks Anwalt dem N eine Schadenersatzforderung an, falls der die Veröffentlichung veranlaßt – schließlich ist der Nachlaßpfleger für Vermächtnisse überhaupt nicht zuständig. Daraufhin konzentriert N sich auf seine unaufschiebbaren Aufgaben und veranlaßt keine Veröffentlichung der Bücher.
Ks Anwalt spricht mit dem Nachlaßrichter, der die Meinung des Anwalts teilt, daß nach deutschem Erbrecht eine Erbeinsetzung nur möglich ist, wenn die Person des Erben von jeder sachkundigen Person anhand des Testaments – ggf. unter Berücksichtigung von Umständen, die außerhalb des Testaments liegen – nach objektiven Kriterien zuverlässig festgestellt werden kann. Nachdem die Manuskripte erst nach dem Tod des E zur Veröffentlichung gebracht werden sollen, stand die Person des Begünstigten aber im Zeitpunkt des Erbfalls nicht fest. In Betracht kommt somit durch sog. Umdeutung ein aufschiebend bedingtes Vermächtnis zu Gunsten des Verlegers. Allerdings meint der Nachlaßrichter, daß nach bisheriger Aktenlage K wohl enterbt werden sollte und somit die übernächsten Angehörigen als gesetzliche Erben festgestellt werden müßten.
Ks Anwalt recherchiert gründlich. Er kann dem Nachlaßgericht schließlich ein amtliches Wertgutachten vorlegen, wonach der Bauernhof in Südosteuropa nicht ca. € 50.000,- sondern nicht einmal ein Fünftel davon wert ist. Bei der Bank hingegen hatte E tatsächlich ca € 50.000,- angelegt, wie es in seinem Testament steht.
Ks Anwalt stellt daraufhin einen Antrag auf Erteilung eines Erbscheins, der K als Alleinerbe ausweist. Er argumentiert, daß E sich über verschiedene Voraussetzungen geirrt hat und sein einziges Kind mit einem Vermächtnis, das den Pflichtteil decken sollte, nicht enterben wollte. Der Irrtum über den Wert der Immobilien wird mit dem amtlichen Gutachten belegt. Der Pflichtteil – beim Einzelkind des unverheirateten Erblassers immerhin ½ des Nachlaßwertes – ist entgegen der im Testament angeführten Annahmen Es mit dem Vermächtnis des Bauernhofs nicht annähernd abgedeckt. Der Irrtum des E, daß K den E nicht besuchen wollte, wird auch aufgedeckt; den E besuchen wollte hat K schon, ohne Visum waren die Besuche aber nicht möglich. Falls dieses Ergebnis nicht durch Auslegung des Testaments herbeizuführen ist, ficht der Anwalt alle Verfügungen an, die der Alleinerbenstellung seines Mandanten entgegenstehen.
Das Nachlaßgericht folgte der Argumentation des Anwalts von K und stellte einen Erbschein aus, der K als Alleinerbe ausweist. Damit bekommt K das Geld von der Bank und die Manuskripte vom Nachlaßpfleger herausgegeben. Nun kann F die Manuskripte sichten und veröffentlichen. Der Anwalt freut sich über den Ausgang und wird diesen komplexen Fall in seinen zukünftigen Vorträgen erwähnen, damit andere Erblasser ihre Testamente, gegebenenfalls mit juristischer Unterstützung durch einen Rechtsanwalt oder Notar, weniger auslegungsbedürftig formulieren.